Am 16. März 2019 habe ich auf dem FDP-Bezirksparteitag in Korntal-Münchingen zur Einbringung des Regionalwahlprogramms nachfolgende Rede gehalten:
Sehr geehrte Damen und Herren,
ich führe heute in das FDP-Regionalwahlprogramm mit einem Buchtipp ein: „Frank Biess: Republik der Angst. Eine andere Geschichte der Bundesrepublik“ steht auf der Bestsellerliste und die Lektüre lohnt sich. Ergebnis: Seit 75 Jahren ist es in der Bundesrepublik „5 vor 12“. Die Republik schwankt von einer Angstwelle zur nächsten – angefangen bei der Vergeltungsangst der Nachkriegszeit bis zur Klimaangst von heute. Die Glocke hat dann aber nie geschlagen, aber trotzdem ist die Erzeugung von Angst eine politische Dauermethode von links und rechts geworden.
Diese Haltung gibt es auch in der Region: Angst vor Strukturwandel, Globalisierung, Umwelt- und Klimakatastrophen, Zersiedlung der Landschaft, belasteter Luft und Überfremdung – je nach politischem Lager – lähmt uns und macht uns passiv und pessimistisch. Angst mobilisiert eben nicht.
Der Kabarettist Christoph Süß hat einmal wunderbar zusammengefasst, wovor wir Angst haben: „Vor der Finanzkrise und der Bankenkrise. Dem Euro. Griechenland. Überhaupt vor Europa. Vor dem Klimawandel. Dem Ökofaschismus. Überschwemmung. Wassermangel. Vor Überfluss. Vor Knappheit. Vor Terroristen. Fundamentalisten. Idealisten. Kommunisten. Kapitalisten. Dem Antichristen. Christen. Moslems. Juden. Hindus. Sekten. Insekten. Langeweile. Amerikanern. Chinesen. Indern. Pakistanis. Polen. Negern. Überhaupt Ausländern. Nachbarn. Männern mit Bart. Frauen mit Bart. Der Wissenschaft. Verblödung. Vor Gutmenschen. Vor bösen Menschen. Unmenschen. Übermenschen. Untermenschen. Überhaupt vor Menschen. Vor Bakterien und Viren. Vor der Zerstörung der Umwelt. Vor Staus. Vor der Kernkraft. Davor, dass der Strom ausfällt. Vor Windrädern. Monokultur. Vielfalt … Vor Armut. Demütigung. Dem Teufel. Gott. Der Jugend. Dem Erwachsenwerden. Dem Alter. Vor Giften. Medikamenten. Peinlichkeit. Kleinlichkeit. Heimlichkeit. Engen Räumen. Weiten Plätzen. Zu fett werden. Anorexie. Alzheimer. Nicht vergessen können. Liebe. Einsamkeit. Vor dem Chef. Den Kollegen. Vor Mobbing. Teilnahmslosigkeit. Vor Isolation. Vor Sattheit. Vor dem Hunger. Dekadenz. Askese. Vor dem Internet. Davor, kein Netz zu haben. Vor Arbeitslosigkeit. Stress. Burn-out. Langeweile. Der Zukunft. Der Vergangenheit.“
Dem hat die FDP und wir in unserem Programm zur Regionalwahl ein anderes Lebensgefühl entgegen gestellt: „Neue Chancen für die Region Stuttgart“ heißt unser Entwurf. Wir sagen, wir kriegen das hin. Wir nehmen die Herausforderungen an. Wir freuen uns und sind stolz darauf unsere Region zu gestalten. Wir sind nicht ängstlich was die Zukunft angeht und wir sind nicht ängstlich, wenn wir uns politisch äußern und uns positionieren.
Wir wollen eine Zukunft für freie Menschen in der Region Stuttgart. Deshalb fallen bei uns Dogmen in der Verkehrspolitik. Deshalb sagen wir Nein zu ideologischen Extrempositionen und werben für Maß und Mitte in der Politik.
Deshalb spricht sich dieser Programmentwurf für Straße und Schiene aus und will die Mobilität der Menschen erhalten. Denn das gehört für uns zur Freiheit. Gleichzeitig sind wir sehr dafür, starke und radikale Anreize zu schaffen für die Nutzung des ÖPNV.
Wir haben auch keine Angst vor der politischen Auseinandersetzung. Wenn die Anderen kneifen und hinter vorgehaltener Hand zugeben, dass die Ausstattung der S-Bahn-Stammstrecke in der Stuttgarter Innenstadt mit dem Signalsystem ETCS nicht die abschließende Lösung der Verkehrsprobleme bringt, sondern höchsten Entlastung für fünf Jahre, sagen wir ganz klar: Wenn wir den Flaschenhals im S-Bahn-System in den Griff bekommen wollen, benötigen wir eine zweite Stammstrecke für die S-Bahn in der Stuttgarter Innenstadt. Genauso wie sie zurzeit in München gebaut wird. Wir denken über den Horizont von fünf Jahren hinaus.
Wir lassen uns auch nicht lähmen und jagen deshalb verbohrt Utopien nach: Wer die Energiewende in der Region Stuttgart mit Windkraft lösen will, hat keine Ahnung, woher der Wind weht – nämlich von Westen. Deshalb liegt ein Großteil der Region im Windschatten des Schwarzwaldes. Wir sind Realisten und sagen, dass eine Industrieregion eine Grundlast-Energieversorgung braucht, die in einem sehr langen Prozess des Erzeugertausches auch durch regenerative Energien vermehrt abgedeckt werden kann. Die Fotovoltaik ist für die Region in absehbarer Zeit aber eine bessere Lösung als die Windkraft.
Wir entwerfen optimistische Zukunftsbilder und haben den Ehrgeiz, die Region Stuttgart zur Region mit den schnellsten Internetverbindungen und Netzen bundesweit zu machen. Wir strecken uns nach einer Zukunft in der Region 5.0 aus, die einen Strukturwandel in der Automobilindustrie erfolgreich bewältigt hat und in der die Menschen Platz für ein gutes Leben und sinnstiftendes Arbeiten haben.
Dazu gehören in unserer dicht besiedelten Region viele Abwägungen. Gerade die Regionalplanung nimmt Abwägungen vor zwischen den Erfordernissen der Wirtschafts- und Siedlungsentwicklung und dem Schutz von Natur und Landschaft. Zu dieser Abwägung stehen wir. Aber in einer Zeit der apokalyptischen ökologischen Angst, die von den Grünen geschürt wird, läuft diese Abwägung nicht mehr ausgewogen ab.
Thomas Mann sagte einmal: „Ich bin ein Mensch des Gleichgewichts. Wenn das Boot nach links zu kentern droht, lehne ich mich automatisch nach rechts. Und umgekehrt.“ Um das Boot im Gleichgewicht zu halten, ist es zurzeit angesagt, die Zukunft der Wirtschaftsregion Stuttgart im Auge zu haben und die Wohnraumentwicklung voran zu treiben. Das ist nämlich die Neue Soziale Frage. Menschen müssen sich Wohnraum leisten können und noch eine Chance haben, sich ihren Traum vom Wohnen zu erfüllen. Wir wollen kein Los Angeles in der Region Stuttgart – einen endlosen Siedlungsbrei. Wenn das droht, werden wir die Ersten sein, die sich zur anderen Seite des Bootes herauslehnen.
Wir wollen aber auch keine Blockade bei der Gewerbe- und Industrieflächenentwicklung, wir wollen keine unbezahlbaren Wohnungen und keine Deindustrialiserung mit schlimmen sozialen Konflikten in der Region Stuttgart. Also: Kein zersiedeltes Los Angeles, aber auch kein am Strukturwandel gescheitertes Detroit in der Region Stuttgart.
Auch wir entwerfen negative Zukunftsbilder und sagen, was wir nicht wollen: Kein Los Angeles, kein Detroit. Aber wir schüren nicht eine „Los Angeles-Angst“ oder eine „Detroit-Depression“ – das macht den Unterschied.
Die FDP ist die einzige politische Kraft in der Regionalversammlung, die bei der Wohnraumfrage nicht fatalistisch und passiv ist. Die anderen sagen mit großer Konsequenz: Die Kommunen sollen Bauland schaffen und der Bund und das Land die Rahmenbedingungen verbessern. Der Regionalverband könne da gar nichts machen außer gut zureden.
Wir widersprechen da: Der Regionalverband kann im suburbanen Raum von Stuttgart Restriktionen zurücknehmen und auch außerhalb der Entwicklungsachsen entlang der S-Bahnen Wohnraumentwicklung zulassen, wenn dieser mit ÖPNV-Konzepten gekoppelt ist. Und der Regionalverband kann Kommunen die Pistole auf die Brust setzen: Wenn Kommunen meinen, ihre Wohnbauschwerpunkte im Regionalplan nicht entwickeln zu müssen, sind diese mit einem Verfallsdatum zu versehen. Wer nichts tut, verliert seinen Status. Das wird manchen in die Puschen bringen. In Pleidelsheim haben wir das bei den Gewerbeflächen praktiziert, warum nicht auch bei den Wohnbauflächen.
Wir müssen den Menschen das Gefühl geben, dass in der Region Stuttgart nicht tatenlos der Neuen Sozialen Frage Wohnen zugeschaut wird.
Übrigens ist der Regionalverband nicht befugt, da den Unschuldigen zu spielen. 2012 hat mich die FDP München zu einem Vortrag über die Region Stuttgart ins Hofbräuhaus eingeladen. Ich habe damals erstaunt gelernt, dass die Region München bis 2030 um 300.000 Menschen wachsen will, die Region Stuttgart aber nur um 36.000 Menschen. München setzte schon damals auf Zuwanderung, während sich Stuttgart fälschlich von der Angst vor der demographischen Entwicklung lähmen ließ. Pausenlos haben wir dann seit 2012 darauf hingewiesen, dass der Regionalplan von falschen Erwartungen bei der Bevölkerungsentwicklung ausgeht und die Baulandausweisung viel zu restriktiv ist. 2016 ist die Botschaft dann endlich angekommen und die Region denkt um – aber viel zu spät. Noch 2015 hieß es, es gäbe keinen Wohnraummangel in der Region. Begründet wurde dies mit Leerständen in Dörfern und Kleinstädten im Osten der Region. Die wurden mit dem Mangel im Zentrum der Region verrechnet. Im Durchschnitt war dann alles in Ordnung. Anscheinend ist bei einem Mann, der seine rechte Hand auf eine heiße Herdplatte und seine linke in den Gefrierschrank legt, im Durchschnitt auch alles in Ordnung. Auch aus diesem Grund hat die Region eine Mitverantwortung für die Situation und kann sich nun nicht auf die Zuschauerbank passiv zurückziehen.
Ich danke meinen Fraktionären Armin Serwani, Charlie Braun und Gudrun Wilhelm für den gemeinsamen Kampf für diese Ziele in den vergangenen fünf Jahren. Wir waren eine kleine aber – ich glaube, das kann ich sagen – äußerst aktive Fraktion und wir haben alle diese Gedanken gemeinsam entwickelt und vorangetrieben. Auch zwischenmenschlich war es eine sehr gute Zeit.
Lassen Sie uns nun gemeinsam die Zukunft der Region Stuttgart anpacken. „Heimat ist dort, wo es nicht egal ist, ob es mich gibt“ sagt der Zukunftsforscher Harald Welzer. Kämpfen wir gemeinsam für eine Region Stuttgart, in der es sich lohnt zu leben und die wir gemeinsam gestalten.
Ich habe meine Rede mit einem Buchtipp begonnen. Ich möchte mit einem Buchtipp enden: „Harald Welzer: Alles könnte anders sein. Eine Gesellschaftsutopie für freie Menschen, Frankfurt/M. 2019“: Nichts ist alternativlos, die Zukunft ist gestaltbar und ich habe das Vertrauen, das es eine gute Zukunft sein wird.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!
Das verabschiedete Regionalwahlprogramm gibt es hier.
Das Zitat von Christoph Süß stammt aus „Morgen letzter Tag. Ich und Du und der Weltuntergang“, München 2012, S. 11f., zitiert bei Harald Welzer: Alles könnte anders sein, S. 17.