Angst vor Wohlstandsverlust und der Bedrohung der eigenen Kultur treibt Menschen in Deutschland seit Wochen zu den Pegida-Demonstrationen. In der Region Stuttgart ist es bisher ruhig – vielleicht auch deshalb, weil in Stuttgart die Integration von Migranten im bundesweiten Vergleich besonders gut gelingt. Es ist aber Zeit darüber nachzudenken, was die Demonstranten befürchten und was sie bewirken.
Regionaler Wohlstand lässt sich in Maßeinheiten ausdrücken: Zuwachs an Arbeitsplätzen, Wirtschaftswachstum, Produktivität, Kapitalentwicklung … Auch der wirtschaftliche Erfolg der Region Stuttgart wird gerne in Zahlen angegeben. So heißt es im Strukturbericht 2013 über die Region Stuttgart (S.7): „Die Region Stuttgart erwirtschaftet knapp 30 % der Wertschöpfung von Baden-Württemberg. Sowohl pro Einwohner als auch pro Erwerbstätigem liegt die Region deutlich über dem Bundes- und Landesdurchschnitt. Durch die schnelle Überwindung der Wirtschaftskrise konnte die Region Stuttgart bereits 2010 wieder an ihren großen Produktivitätsvorsprung anknüpfen, den sie traditionell gegenüber der Bundes- und Landesebene hat. …. Mit einer Wertschöpfung von 76.350 Euro pro Erwerbstätigem kommt das Produzierende Gewerbe auf eine um ein Drittel (32,2 %) höhere Arbeitsproduktivität als der Dienstleistungssektor.“ So entsteht der Eindruck, dass die quantitative Entwicklung der Produktionsfaktoren Arbeit und Kapital allein ursächlich für unseren Wohlstand ist.
Gegen diesen mathematisch-statistischen Blick auf die nationalen und regionalen Wirtschaften hat sich Ende der neunziger Jahre der Wirtschaftshistoriker David Landes gewandt. In seinem Buch „Wohlstand und Armut der Nationen. Warum die einen reich und die anderen arm sind“ (Berlin 1999) arbeitet er heraus, dass die Kultur den entscheidenden Unterschied macht. Es ist das Zusammenspiel von Kultur und Ökonomie, das eine Region zum Erfolg führt. Ob die Menschen diszipliniert, leistungsbereit, initiativ und kreativ sind, hängt vor allem von ihrer kulturellen Prägung und weniger von der Entwicklung der Wirtschaftsdaten ab. Landes illustriert das mit einem Witz aus der Sowjetzeit: „Bauer Iwan (ist) auf Nachbar Boris neidisch, weil Boris eine Ziege besitzt. Eine Fee taucht auf und schenkt Iwan einen freien Wunsch. Was wünscht sich Iwan? Dass Boris‘ Ziege tot umfallen solle.“ (S.519) – keine wohlstandsfördernde Kultur. Am Beispiel des Niedergangs Spaniens als wirtschaftliche Weltmacht im 16. Jh. arbeitet Landes heraus, dass die Hexenjagd auf Andersgläubige im Rahmen der Gegenreformation maßgeblich für Spaniens wirtschaftlichen Abstieg war: Man verschloss sich neuen Erkenntnissen und erstickte Initiative und Kreativität. Sein Fazit: „Intoleranz schadet … dem Täter mehr als dem Opfer“ (S.199).
Der US-Ökonom Richard Florida hat 2002 im seinem Buch „The Rise of the Creative Class. And How It’s Transforming Work, Leisure and Everyday Life“ die Bedeutung von Toleranz für wirtschaftlichen Wohlstand im regionalen Wettbewerb noch verschärfter herausgearbeitet: Die „3T“ sind maßgeblich für erfolgreiche Regionen – Technologie, Talent und Toleranz. Technologie steht für Innovationen, Talent für das kreative Potenzial und Toleranz für die Offenheit einer Region, durch welche ein großes Spektrum an Menschen angezogen wird, was zu einem hohen Austausch an neuen Ideen führt. 3T-Regionen gehört die wirtschaftliche Zukunft.
Gerade beim dritten T der Toleranz liegt die Region Stuttgart – im Unterschied zu den beiden anderen Ts – eher nicht im Spitzenfeld. Hier ist noch Luft nach oben. In der Studie „Zu gut, um in Zukunft bei den Besten dabei zu sein? Attraktivität der Region Stuttgart 2030“ des Forum Region Stuttgart aus dem Jahr 2013 heißt es auf S.19: „Im Rahmen der Studie „Kreative Klasse in Deutschland“ wurde 2010 bundesweit ein sogenannter Toleranzindex erhoben. Der Index vergleicht den Ausländeranteil und den Wähleranteil rechtsextremer Parteien bei der Europawahl 2009. Ein hoher Ausländeranteil und ein geringer Wähleranteil rechtsextremer Parteien führen zu einer positiven Bewertung. In diesem Index schneidet die Region Stuttgart überdurchschnittlich gut ab. In einer ähnlichen Studie der F.A.S. und Roland Berger 2008 wurde ein anderer Toleranzindex für die Bewertung deutscher Großstädte herangezogen. Die Stadt Stuttgart belegte hier Platz 7 von 10.“ Die Studie beklagt, dass es bisher nicht genügend gelungen ist, Toleranz messbar zu machen, was eigentlich nicht verwundern sollte. Als Handlungsfeld definiert sie: „Trotz zufriedenstellender Bewertungen in Toleranzindizes wurde der Handlungsbedarf für dieses Zukunftskriterium in den Expertenkreisen deutlich. Verbesserungsbedarf besteht bei der Bildungsbeteiligung von Menschen mit Migrationshintergrund und in einer breit gelebten Willkommens‐ und Anerkennungskultur für Menschen aus aller Welt“ (S.20). Das ist ganz im Sinne von Richard Floridas 3T.
Fazit: Die Demonstranten der Pegida leisten paradoxerweise ihren Beitrag zu dem, was sie fürchten: „Intoleranz schadet dem Täter mehr als dem Opfer“ – an dieses Wort von David Landes sollten alle denken, die auch in der Region Stuttgart mit dem Gedanken spielen, solche Demonstrationen zu organisieren. Vielleicht gelingt es ja stattdessen Stuttgart zum Zentrum der 3T zu machen.