Jahresempfang der FDP Regionalfraktion am 8. Mai 2013 in der Galerie der Stadt Sindelfingen. „Ethik und Verantwortung in der Regionalpolitik“ war mein Thema:

Sehr geehrte Damen und Herren,

ich begrüße Sie sehr herzlich zu unserem ersten Jahresempfang der FDP Regionalfraktion. Wir wollen heute eine Tradition begründen und diese Runde nutzen, um über den Tellerrand hinaus zu schauen.

Wir haben uns bewusst für das Thema Ethik und Verantwortung entschieden, weil wir ja die Partei sind, auf die gerne als „Ellenbogenpartei“ und Klientelbediener eingeschlagen wird. Dabei liegen die Wurzeln der Liberalen just im Miteinander von Ethik und Politik begründet. Für Andere stehen Ethik und Politik in einem Gegensatz. Die dahinter stehenden Prinzipien und Argumentationsweisen reichen dabei von der großen Politik bis zur kleinen Regionalebene. Sie reichen vom „Gottesstaat“, in dem die Weisen, Gelehrten, Geheiligten, Gebenedeiten die Wahrheit gepachtet haben, und dabei ist es egal, ob die Mao, Lenin, Hitler, Stalin heißen, geistliche Führer oder weltliche Führer sind, bis hinab auf die untere Ebene: Auch in der Region treffen wir immer wieder auf Menschen, die meinen im Besitz der alleinseligmachenden Wahrheit zu sein und Führerschaft und Gefolgschaft verlangen. Wir Deutsche haben damit ja besondere Erfahrungen gemacht. Ich will ein wenig beleuchten, was es damit auf sich hat.

Ich habe mich 1990 gerade als Christ und Theologe für die FDP entschieden, weil mir das realistische Menschenbild der Liberalen sympathisch war. Wir Liberale nehmen die Menschen zur Kenntnis wie sie sind, nicht wie Idealisten sie gerne haben möchten. Zugleich Gottesebenbild und Sünder heißt es in der christlichen Tradition, zu verantwortlichem Handeln für die Mitmenschen fähig und zugleich von Eigeninteressen und Allmachtsphantasien geleitet, heißt es im liberalen Gedankengut. Dieses duale Menschenbild – zugleich triebgesteuertes Tier und mitfühlend-rationales Geschöpf – verbindet religiöse und liberale Menschen.

Wenn man über Ethik, Verantwortung und Politik nachdenkt, lohnt es sich, an den Beginn der philosophischen Auseinandersetzung zu diesem Thema zurückzugehen. Da landet man bei Sokrates, dem Urvater des Nachdenkens über Ethik. Man wird auch schnell und ernüchternd fündig. Wir schreiben das Jahr 399 v.Chr.: Sokrates gibt seinen Schülern kurz vor seinem Tod durch den Schierlingsbecher noch Weisheiten mit auf den Weg. Eine davon lautet, seine innere Stimme habe ihn immer davon abgehalten, sich aktiv in die Politik zu mischen: „Denn wisst nur, ihr Athener, wenn ich schon vor langer Zeit unternommen hätte, mich um die politischen Dinge zu kümmern, wäre ich schon vor langer Zeit umgekommen.“ Er empfiehlt dringend Abstand von der Politik, denn in einer Welt, die von Machtbesessenheit und Heuchelei geprägt sei, müsse man sich verhalten „wie einer im Winter sich unterstellt, wenn Staubwind und Regenschauer umhertreiben.“ Am Anfang allen Nachdenkens steht also die Behauptung, Ethik und Politik seien unvereinbar. Die Empfehlung lautet, eine Abseitsperspektive einzunehmen, denn Politik verderbe den Charakter. Diese Einschätzung ist in der Bevölkerung gerade heute mehrheitsfähig. Dem GfK-Vertrauensindex 2013 kann man entnehmen, dass gerade einmal 16 Prozent der Deutschen den Politikern vertrauen. Das ist ernüchternd. Es ist aber auch eine sehr lebenspraktische Perspektive, die seit 2400 Jahren gepflegt wird, denn Fernhalten vom politischen Prozess legitimiert auch das Sich-nicht-informieren-müssen. Wir kennen das in der Region: Über viele Jahre wurde aktiv über S21 informiert und es hat fast niemanden interessiert. 2010 als es an die Umsetzung ging, kam dann der große Aufschrei und der Vorwurf von „Hinterzimmerentscheidungen“ und die Behauptung „Wir wurden nicht informiert und beteiligt“. Jüngst hat die Regionalverwaltung zwölf mäßig besuchte Infoveranstaltungen zur Windkraft in der Region durchgeführt, es hätten 120 sein können und dennoch wird der empörte Vorwurf kommen „Wir wurden nicht informiert“, wenn das Windrad vor der eigenen Haustür errichtet wird.

Bitte verstehen Sie mich nicht falsch: Ich bin seit den 90er Jahren bei „Mehr Demokratie“ dabei und setze mich aktiv für die Ausweitung der Beteiligungsrechte der breiten Bevölkerung an politischen Entscheidungen ein. Aber ernüchtert musste ich doch immer wieder feststellen, dass selbst bei sehr transparenten Entscheidungsprozessen und ausgiebiger Information im Vorfeld immer wieder die Empörung sich erhebt. Ich bin inzwischen zu der Ansicht gekommen, dass dies eine tiefsitzende abendländische Erfahrung ist, die uns die alten Griechen eingebrockt haben: Politiker können per se nichts Gutes im Schilde führen – lautet die Denke. Gegen diese Abseitsperspektive müssen wir angehen, wenn das Gemeinwesen funktionieren soll. Mehr Einbindung, mehr Übertragung von Mitverantwortung im politischen Prozess an die Bürger heißt für mich der richtige Weg.

Jetzt müssen wir aber noch einen Blick auf die Steigerung der sokratischen Perspektive durch seinen Schüler Platon werfen. Das Verhängnis wurde von Sokrates auf die Bahn gebracht, seine richtige Beschleunigung erfuhr es aber durch Platons Auffassung vom Philosophenstaat: Politiker sind amoralische Subjekte, deshalb müssen Nicht-Politiker, die Philosophen, die Macht im Staat übernehmen. Diese haben die höhere Einsicht. Ich nenne das nach der Abseitsperspektive von Sokrates die Außenperspektive von Platon. „Der Weise soll führen und herrschen und der Unwissende soll ihm folgen“ war Platons Maxime. Platons Karriere als politischer Berater bei Tyrannen in Sizilien ist kläglich gescheitert. Leider hat er daraus keine Konsequenzen für seine Philosophie gezogen. Karl Raimund Popper hat Platons Auffassung vom Philosophenstaat als die historische Wurzel aller totalitären Gedanken herausgearbeitet und Platon knallhart als den „Vater des Faschismus“ bezeichnet. Wer meint, dass damit diese Auffassung diskreditiert sei, der täuscht sich gewaltig. Sie ist heute sogar sehr angesagt. Ein über den Wassern der Politik wandelnder Ministerpräsident ist gerade wegen seiner Erhebung aus dem politischen Alltagsgeschäft populär. Das regelmäßige Zitieren philosophischer Brocken von Hannah Arendt scheint das Bild zu unterstreichen. Auch der ehemalige Bundespräsident Horst Köhler war als von außen kommender antipolitischer Typ beliebt.

Auch in der Region gibt es die Außenperspektive: Sie kommt harmlos daher, wenn uns das Dialogforum der Kirchen ethische Ratschläge für die regionale Politik geben möchte. Die Dinge fallen heftiger aus, wenn ein Infrastrukturprojekt wie „Stuttgart 21“ zur Frage von gut oder böse hochstilisiert wird. Als der Vertreter der Freien Wähler und ich in einer der letzten Sitzungen des Verkehrsausschusses die Vorteile von S21 nochmals dargestellt haben, wurden wir ernsthaft von einem Vertreter der Grünen-Fraktion gefragt, wie viel Geld wir für diese Äußerung bekommen hätten. Dahinter steht die Vorstellung, dass der Politikbetrieb korrupt ist und nur ein paar „Gutmenschen“ die Machenschaften des „Lügenpacks“ durchschaut haben. Dass die Grünen sich mehrheitlich auf diese Seite geschlagen haben und als antipolitische Tugendwächterpartei Honig aus tief sitzenden Ressentiments gegen die Politik saugen wollen, ist für mich ein großer Sündenfall.

Die Abseits- und die Außenperspektive können nicht die Antworten für unsere Suche nach Ethik und Verantwortung in der Politik sein, denn beides wird in diesen beiden Perspektiven außerhalb der Politik gesucht. Gibt es also auch eine Innenperspektive zum Thema Ethik und Verantwortung? Es führt hier zu weit, alles bis ins Detail zu entwickeln. Nur kurz: Die Spur hierzu haben die Soziologen Max Weber und Niklas Luhmann sowie Philosophen der angelsächsischen Aufklärung und Karl Raimund Popper aber auch der Niederländer Baruch de Spinoza gelegt. Schon Luther hat im 16. Jh. erkannt, dass sich die Individualethik des Jesus von Nazareth nicht so einfach auf staatliches Handeln übertragen lässt. Dieser Gedanke wurde hin zu einer realistischen Ethik weiterentwickelt, die aus der Innenperspektive der Akteure ethisches Handeln als das „größte Glück der größten Zahl“ ansieht. Mit anderen Worten: Politiker haben die Aufgabe und sollen den Ehrgeiz haben, ihren Aufgabenbereich bei ihrem Ausscheiden aus der Politik besser zu verlassen, als sie ihn bei Antritt ihrer Mandate und Aufgaben vorgefunden haben. Und das ist auch eine gute Motivation für uns Regionalpolitiker: Die Welt in der Region und das Leben für die Menschen ein bisschen besser machen.

Verbunden mit der Erkenntnis, dass vormoderne Gesellschaften wertintegriert, moderne Gesellschaften aber regelintegriert sind, werden heute moralische Ideale durch demokratische Prozesse erst gesucht. Es geht also nicht mehr um hehre Idealwelten, die mit der Politik konfrontiert werden, sondern darum, moralische Ideale unter den Bedingungen der Realität zu finden und zur Geltung zu bringen. Der politische Abwägungs- und Entscheidungsprozess ist selbst zutiefst ethisch, weil er versucht, den Situationen, in denen die Menschen leben, Rechnung zu tragen und ihnen nicht ein Maß von außen aufzwingt. Diese vormoderne Denke müssen wir endlich überwinden und klar formulieren, dass gelingendes Leben nur in dieser Welt geführt werden kann (und das sage ich als Theologe). Es ist zentrale Aufgabe der Politik sich um gelingendes Leben für die größtmögliche Zahl der Menschen zu mühen. Dies tun wir in der Region in ständigen Abwägungsentscheidungen. Landschaftsschutz auf der einen und Wohnungsbau und Verkehrsinfrastruktur auf der anderen Seite stehen in einem Spannungsverhältnis. Hier im demokratischen Prozess in den Gremien der Region eine Abwägung vorzunehmen, ist ein eminent ethischer Vorgang. In der Abwägung stellen wir uns der Verantwortung. Wir haben unterschiedliche Auffassungen, wodurch wir die Welt ein Stückchen besser machen und auch darüber, was „besser“ überhaupt heißt. Dass in uns allen – selbst im größten Egomanen – fraktionsübergreifend ein ethischer Impuls steckt, streite ich aber niemanden ab. Ich akzeptiere, dass man bei diesen Abwägungsentscheidungen zu unterschiedlichen Auffassungen kommen kann. Dann gibt es Mehrheitsentscheidungen, keine Wahrheitsentscheidungen. Dann gibt es auch heftigen Streit. Diesen „Staubwind und Regenschauer“ akzeptiere ich gerne. Ich akzeptiere aber nicht, wenn einer Seite vorgeworfen wird, dass sie sich nicht um das „größte Glück der größten Zahl“ mühe. Dann und nur dann wäre Politik unmoralisch.

Im Moment machen die Grünen einen interessanten Lernprozess durch: Der Ausstieg aus der Atomkraft war seit Gründung der Partei ein unbedingtes Ziel und ihrer Meinung nach ein hoher Wert zur Bewahrung der Schöpfung. Dass die Umsetzung der Energiewende durch den Ausbau der regenerativen Energien nur durch erhebliche Eingriffe in die Natur und die Landschaft zu haben ist, macht überdeutlich, dass es in der realistischen Ethik kein einfaches Gut und Böse gibt, sondern immer Abwägungsentscheidungen, wodurch das „größte Glück der größten Zahl“ gefördert werden kann.

Wir Liberale stehen für ein freies Land, in dem um den richtigen Weg für das „größte Glück der größten Zahl“ mit demokratischen Mitteln gerungen wird. Ein zutiefst ethischer Vorgang, an dem sich möglichst viele Menschen beteiligen sollten. Die vormodernen Vorstellungen der Abseits- und Außenperspektive sollten wir dringend ablegen und auch nicht für die kurzfristige politische Auseinandersetzung instrumentalisieren. Die FDP steht für ein offenes Ringen der politischen Kräfte um den richtigen Weg. Wer aber meint, die Wahrheit „mit Löffeln gefressen zu haben“, wird immer auf den energischen Widerstand der FDP stoßen.

Die Ethik des politischen Systems entlastet Politiker aber nicht von einer individuellen Ethik: Das Funktionieren des regionalen Politikbetriebs hängt auch von Voraussetzungen ab, die jeder einzelne Politiker mitbringen muss: Verantwortungsgefühl für die gesamte Region, nicht nur für die Heimatkommune oder das einzelne Anliegen, Verlässlichkeit, ein Gefühl für Fairness und einen Sinn für das richtige Maß. Das hat der große Ethiker Spinoza in seiner politischen Theorie leider übersehen. Er lehrte, dass es keine „Privattugenden“ brauche, wenn nur das politische System funktioniere. So ist es dann doch nicht. Genauso wie die Wirtschaft den „ehrbaren Kaufmann“ braucht, der Vertrauen und Vertragstreue mitbringt, damit das System funktionieren kann, brauchen wir Politiker, die „ehrbar“ sind. Die politischen Skandale bundesweit werfen da kein gutes Bild auf die politische Klasse. Aber auch der Vorgang „Filderdialog“ war ein politischer Vertrauensbruch: Bürgerbeteiligung einleiten, dann aber aus machttaktischen Gründen nicht umsetzen, geht nicht.

Für die ewiggestrigen Anhänger der Außenperspektive, möchte ich zum Schluss ein Zitat des Baruch de Spinoza aus dem Jahr 1675 vortragen, in dem ich nur das Wort „Philosophen“ durch „Tugendwächter“ ersetzt habe: „Die Affekte, von denen wir mitgenommen werden (also unsere Gemütsregungen und Aktionen, zu denen wir uns hinreißen lassen, unsere „tierische“ Seite, z.B. die morgendliche Trägheit mit dem Auto zum P+R-Parkplatz zu fahren anstatt mit dem Fahrrad durch den Regen zur Stadtbahn zu strampeln ), verstehen Tugendwächter als Fehler, in die die Menschen durch eigene Schuld verfallen. Deshalb pflegen sie sie (z.B. die Autofahrer) zu belachen, zu beklagen, zu verspotten oder (sofern sie sich den Anschein besonderer Sittenreinheit geben wollen) zu verdammen. Sie glauben dergestalt etwas Erhabenes zu tun und den Gipfel der Weisheit zu erreichen, wenn sie nur gelernt haben, eine menschliche Natur, die es nirgendwo gibt, in höchsten Tönen zu loben, und diejenige, wie sie wirklich ist, herunterzureden. Sie stellen sich freilich die Menschen nicht vor, wie sie sind, sondern wie sie sie haben möchten; und so ist es gekommen, dass sie statt einer Ethik meistens eine Satire geschrieben und niemals eine Politik-Theorie konzipiert haben, die sich auf das wirkliche Leben anwenden ließe.“ Worte von 1675, sehr modern, gerichtet an unsere Tugendwächter von heute.

Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

 

Ethik und Verantwortung in der Regionalpolitik

Ein Kommentar zu „Ethik und Verantwortung in der Regionalpolitik

  • 10. Mai 2013 um 11:54 Uhr
    Permalink

    Sehr geehrter Herr Buschmann

    Unter Ethik verstehen wir seit Aristoteles und Sokrates die praktische Begründung von Handlungsalternativen auf der Basis von Sitte und Moral. Dabei lassen sich Sätze der Praktischen Philosophie auf drei Ebenen darstellen:

    1. Formale Grundsätze, ein oberstes Prinzip praktischer Überlegungen

    • Kategorischer Imperativ
    „Handle so, dass die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne.“ Immanuel Kant
    oder
    • „Alles was ihr euch von den Menschen erwartet, das tut ihnen auch.“ Matthäus (7, 12):

    2. praktische Grundsätze, die sich aus dem obersten Prinzip ableiten
    • Grundsätze der Stoa (siehe Mark Aurel)
    • die zehn Gebote

    3. Sätze, die Entscheidungen formulieren, indem sie Maximen auf konkrete Lebenssituationen anwenden.

    Vorträge über Ethik im politischen Handeln beziehen sich fast immer auf die Ebenen 1 und 2 und wirken deshalb oft auf die Zuhörer wie belanglose Balkonreden – pastoral zu Feiertagen.

    Was Ihren Vortrag auszeichnet, ist der Versuch, Aussagen über die dritte Ebene zu machen – denn genau da brauchen wir eine liberale Ethik. Im Alltagshandeln. Und genau da ist in den letzten zwei Jahrzehnten ein großer Mangel. Auch weil eine am Umsatz orientierte „Vierte Gewalt“ ihrer Verantwortung dem Gemeinwesen gegenüber nicht nachkommt.

    Sie haben in mir einen überzeugten Mitstreiter, diesen Zustand zu ändern.

    Dr Wolfgang Allehoff ist stellv. Landesvorsitzender der Liberalen Senioren Initiative BW.

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